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Dieser Artikel mit Fotos erschien in der Tageszeitung Der Bund
am Montag, 26 Oktober 1998

«Ein Blick auf Leute wie wir»

Behinderte / Zwar fordert die Unesco seit 1994, dass «Kinder mit besonderen Bedürfnissen Zugang zu regulären Schulen haben müssen». Doch mit der Umsetzung tun sich die Länder, insbesondere auch die Schweiz, schwer. Die Münsinger Fotografin Julieta Minder kämpft nicht nur für die Integration ihres mongoloiden Sohnes in die Normalschule, ihre Fotoausstellung im Gümliger Bärtschihus zeigt eindrückliche Bilder aus dem Alltag von Behinderten, von «Leuten wie wir» eben.


Autor: katharina matter

Wenn die in Brasilien geborene und heute mit ihrem Ehemann und vier Kindern in Münsingen lebende Julieta Minder über Behinderungen spricht, spürt man das Engagement. Das hat seinen Grund: Sie hat einen sechsjährigen Sohn namens Dan, der mit dem Down-Syndrom geboren worden ist. «Dan lebt in einem Umfeld, das ihn liebt und in dem er sich entwickeln kann», sagt sie. Sorgen macht ihr der Umstand, dass ihr behinderter Sohn in der Gesellschaft auf Vorurteile und Ausgrenzung stösst. Auch wenn der Titel ihrer Fotoausstellung «Ein Blick auf Leute wie wir» lautet, ist es eine Tatsache, dass Behinderte anders sind und handeln und darum auffallen.

Dan etwa zeigt der Journalistin unvermittelt die Zunge. Ist das nun ein Ausdruck von Misstrauen oder eine Form der spielerischen Kontaktaufnahme? So oder anders: Auf Verwirrungen wie die eben geschilderte reagiert die auf Norm bedachte Gesellschaft mit verschiedenen Formen der Abwehr und der Diskriminierung. Einige Beispiele sollen dies verdeutlichen: Trisomie-21-Kinder wie Dan, die oft einen schweren Herzfehler haben, werden erst seit wenigen Jahren operiert, so dass sich ihre Lebensqualität und -dauer erhöht. Gehörlosen wurde die Anwendung der für sie wichtigen Gebärdensprache während Jahrzehnten verboten. Auf die Bedürfnisse von Gehbehinderten wird im öffentlichen Raum auch heute kaum Rücksicht genommen. Dieser Zustand, der einer humanitären Idealen verpflichteten Gesellschaft unwürdig ist, hat sich einerseits wegen der harten wirtschaftlichen Lage verschärft. Andererseits hat in der Schweiz eine beachtliche Sensibilisierung stattgefunden, die in erster Linie durch die Aktivitäten und die Initiative des Bieler FDP-Nationalrats Marc Suter ausgelöst worden ist, die ein Diskriminierungsverbot von Personen mit Behinderungen in der Bundesverfassung verlangen (über die Forderungen einer Berner Arbeitsgruppe informierte «Der Bund» am vergangenen Freitag).

Julieta Minder stösst sich wie viele Eltern behinderter Kinder daran, dass Dan im nächsten Jahr in eine Sonderschule eingewiesen werden soll. Sie und ihr Ehemann kämpfen vehement für seine Eingliederung in die Primarschule. Sie berufen sich dabei auf die eingangs zitierte Erklärung der Unesco aus dem Jahr 1994, in der es unter anderem heisst: «Wir glauben und erklären, dass Regelschulen mit dieser integrativen Orientierung das beste Mittel sind, um diskriminierende Haltungen zu bekämpfen, um Gemeinschaften zu schaffen, die alle willkommen heissen . . .» Zudem verweisen sie auf Erfahrungen im Ausland, etwa in Schweden, Norwegen, Österreich und Italien, die zeigen, dass die Integration von behinderten Kindern in Regelschulen durchaus praktikabel, ja gar ein Gewinn für beide Seiten ist.

Bern ist zurückhaltend

Allerdings kann sie nur gelingen, wenn den Schulen entsprechende Fachkräfte zur Verfügung gestellt werden. Ansonsten sind Lehrer- und Schülerschaft heillos überfordert. Wie ein solches Modell funktioniert, zeigt ein Pilotversuch im Kanton Thurgau (siehe Kasten). Im Kanton Bern ist man in dieser Frage vorläufig zurückhaltend. Seitens der Erziehungsdirektion wird betont, dass jeder Fall einzeln zu beurteilen sei und keine generelle Lösung vorliege. In der Gesundheitsdirektion weist man darauf hin, dass zwei Pilotversuche in Bern und Thun in Planung sind. Zu kämpfen hat man auch hier mit Vorurteilen, mit Eltern, die meinen, ein behindertes Kind senke das Leistungsniveau der Klasse, mit Lehrern, die begreiflicherweise neben den zahlreichen verhaltensauffälligen Kindern nicht auch noch ein behindertes Kind zu betreuen gewillt sind.

Längerfristig ist jedoch davon auszugehen, dass die Integrationsschule, in der verschiedenste Fachkräfte gemeinsam unterrichten, erziehen und betreuen, auch in der Schweiz Wirklichkeit wird. Zumindest wer den Gedanken der Integration ernst nimmt, wird dafür plädieren, dass diese möglichst früh geschieht, denn nach der Schule sind die Wege schon längst auseinandergelaufen und die entsprechenden Gettos geschaffen.

Die Ausstellung in Gümligen

wird unterstützt durch die Nationale Schweizerische Unesco-Kommission, die Elternvereinigung für Kinder mit Down-Syndrom, Schweiz, die Pro Infirmis, Schweiz, eine Elternvereinigung von Behinderten aus Venedig (A.N.F.F.A.S.) sowie durch Private. Sie ist vom 24. Oktober bis am 5. Dezember im Bärtschihus in Gümligen zu sehen, Dienstag und Mittwoch von 14 bis 17 Uhr und Donnerstag bis Sonntag von 14 bis 19 Uhr (vom 27. bis 30. Oktober von 17 bis 19 Uhr).

Das Beispiel Thurgau

hwi. Als erster Kanton hat der Thurgau ein Konzept für eine integrative Schule erarbeitet. Im August ist der fünfjährige Versuch in zwei Dörfern angelaufen.

Mit einer Geschichte von den vier Fingern und dem Daumen mit dem dicken Bauch und gemeinsamen Zahlenübungen beginnt dieser Montagmorgen in der 36 Schülerinnen und Schüler zählenden Unterstufenklasse in Hohentannen. Nach einer Weile verlässt die Heilpädagogin mit zwei Kindern das Klassenzimmer, um in einem kleineren Raum die Kenntnis der Ziffern eins bis fünf zu festigen. In der gleichen Zeit arbeitet die Klassenlehrerin mit den andern an den weiteren Zahlen. Neben den beiden Lehrerinnen stehen den Schülern und Schülerinnen zwei Heilpädagoginnen, eine Psychomotoriktherapeutin, eine Stufenhilfe und eine Logopädin teilzeitlich zur Seite. Ins Projekt involviert ist auch die Kindergärtnerin. Der Aufwand scheint gross zu sein. Doch betreute man die behinderten oder verhaltensauffälligen Kinder wie andernorts in Sonderschulheimen oder Heilpädagogischen Schulen, entstünden dieselben Kosten. Die schulische Integration aller Kinder ist kostenneutral. Die IV leistet Beiträge gemäss Sonderschulverfügung. Weitere Schulen oder Gemeinden können dem Projekt beitreten. Dazu muss die Bereitschaft der Eltern, Lehrer und Behörden vorhanden sein. Die Behörden arbeiten zudem mit einer Sonderschule zusammen, die allenfalls bereit ist, ein behindertes Kind aufzunehmen.

Der grösste Vorteil liegt für die speziell förderungsbedürftigen Kinder in der sozialen Integration. Aber auch «normale» Kinder profitieren. Ihre soziale Kompetenz erhöht sich entscheidend. «Sie lernen, dass der Stärkere den Schwächeren unterstützen muss. Eine Qualität, die man im Erwachsenenleben, im Beruf braucht», sagt Projektleiter Herbert Wyss. Er ist gar überzeugt, und beruft sich dabei auf Studien, dass überdurchschnittlich begabte Kinder von der integrativen Schule am meisten profitieren. Ist nämlich die Förderung begabter Kinder nicht adäquat, kann es zu ernsten Verhaltensstörungen und sogar schulischen Schwierigkeiten kommen. Die individuelle Lernmethodik hingegen soll allen zugute kommen.


Themen, die Julieta Minder, Fotografin und Mutter eines behinderten Kindes, beschäftigen: Ausgrenzung . . .


. . . Kontaktaufnahme zwischen Behinderten und Nichtbehinderten . . .


. . . und nicht zuletzt die Integration, die in diesem Fall heftig und zugleich liebevoll ist.

Bilder: Julieta Minder

 

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